Freitag, 14. Januar 2011

Der Abgrund lockt verführerisch...


Ein Bein auf festem Boden, das andere schwebt in der Luft. Soll ich nachgeben? Die Sehnsucht ist da, kommt wieder und wieder. Ein alter Freund der mich umarmt und mir leise ins Ohr flüstert "Es ist nur ein Schritt, ein kleiner Schritt". Ein kleiner Schritt der mich wo hinführt? Ins Hungern. Zurück ins Hungern, in das geheime Leben voller Zahlen und Magenschmerzen. Tod auf Raten. Todessehnsucht. Da ist sie also wieder. "Zerstör dich du hast es verdient! Geh zurück in unser kleines Reich der Krankheit, des Wahnsinns, der Extremen!" Da war ich doch schon die letzten Jahre über. Es hat mich im Endeffekt nicht glücklich gemacht. Erinnerungsfetzen.

Der Geburtstag meines Opas, wir sind mit der ganzen Familie in einem Restaurant. Ich hatte kein Mittagessen, damit ich dort "normal" essen konnte. Ein Blick auf die Speisekarte. Ekel. Nur nicht anmerken lassen. Bestellen? Wasser, natürlich. Nichts mit Kalorien. Ich bestellte Kroketten mit Ketchup. Keine Beilagen, keine Pommes. Nur Kroketten. Ganze zehn Stück gegessen. Natürlich wurde ich drauf angesprochen. Lächeln. Hab keinen Hunger. Übelkeit. Unter dem Tisch fange ich langsam an meinen Handrücken zu zerkratzen. Tränen in den Augen. Versuche die Gespräche um mich herum auszublenden. Gemerkt hat es natürlich keiner. Zuhause angekommen erstmal ins Zimmer und nervös im Kreis gehen. Was soll ich tun? Der Druck steigt, drückt mir die Luft weg. Ich schreie unterdrückt, gehe ins Badezimmer. Blick auf die Waage. Mein Mageninhalt wird mir bewusst. Ich lehne mich über die Schüssel, Finger in den Hals bis die Tränen kommen. Es kam nur wenig raus. Viel zu wenig. Beschämt, panisch, ängstlich lehne ich mich gegen die Badewanne. Ich konnte nicht aufhören zu weinen.

Ich komme von der Schule nach Hause, gehe in mein Zimmer. Möchte entspannen, möchte Musik hören. Ich mache die Türe zu. Das bleibt sie nicht lange. Nervös steht meine Mutter im Rahmen. Sie erzählt mir ich solle die Tür auflassen. Ich bin wütend. Verkneife mir meinen letzten Gedanken. Du kannst mich nicht davon abhalten mir etwas anzutun. Bin die Überwachung leid. Eine ganze Woche wurde ich von einem Elternteil jede Minute des Tages überwacht, sie haben sich extra frei genommen. Sie hatten Angst ich versuche mich umzubringen wenn sie mich auch nur eine halbe Stunde allein lassen.

In meinem Zimmer. Ich sitze über einem Stück Papier, einen Stift in der Hand. Nachdenkend. Erinnernd. Die Augen in die Ferne gerichtet. Langsam schreibe ich. Liebe Mareike... Seufze, höre auf, schaue mich um. Neben mir liegen mehrere angefangene Briefe. Alle abgebrochen. Mir fehlen die Worte. Schaue nach rechts. Dort steht eine Flasche, der Inhalt ein wenig getrübt. Wie viele Tabletten habe ich darin mittlerweile aufgelöst?, fragte ich mich. Ich weiß es nicht mehr. Ich habe die Packung genommen und den Beipackzettel gelesen. Ab einer bestimmten Dosis schädlich. Herz. Wird schon schief gehen, dachte ich verbittert und lenkte meinen Blick von der Flasche wieder auf das Papier. Ich schrieb Abschiedsbriefe. Ohne wollte ich nicht sterben. Fehlende Worte leiteten mich von der Flasche hinweg und in die geschlossene Psychatrie hinein.

Auf dem Schulweg. "Hast du abgenommen?" Gerunzelte Stirn, zaghaftes lachen, betont lässige Stimme. "Weiß nicht, vielleicht ein wenig. Ein Kilo? Zwei?" Um genau zu sein 13,2 Kilo in ungefähr zwei Monaten. Immer noch nicht genug. Ich esse immer noch zu viel. Ich BIN immer noch zu viel. Wenige Minuten später in der Schule. "Willst du dir mit mir eine Pizza teilen?". Mein Magen knurrt, stummes entsetzen, Panik steigt in mir auf. Meine beste Freundin schaut mich fragend an, wartet auf meine Antwort, ich bin schon zu lange still. Verdächtig. "Nee, danke." Lächeln, aufstehen, bloß nicht zeigen dass man von den letzten Hungerwochen wieder Kreislaufprobleme hat und nur Schwarz vor den Augen sieht.

Ich sitze in Unterwäsche im Zimmer meiner Eltern auf dem Boden. Schaue auf meine Oberschenkel, kneife mit beiden Händen in das Fett. Das muss weg, murmel ich fachmännisch. Lege den Kopf in den Nacken und stoße leise die Luft aus. Langsam fahre ich mit den Nägeln über die Haut, es kribbelt, nicht unangenehm. Der Druck verstärkt sich, ich schließe die Augen. Wut und Ekel steigt in mir auf. Ich drücke meine Nägel tiefer in die Haut, hinterlasse rote Striemen. Ich will mir das ganze Fett aus dem Körper kratzen.

Unterricht. Gedanken rasen durch meinen Kopf. Ich sollte aufpassen, weiß
 ich. Die Augen starren stur geradeaus an die Wand. Die Gedanken gehen nicht weg. Mein Atem geht schneller, ich werde panisch. Es wird heiß. Ich muss mich bewegen, schießt es mir durch den Kopf. Fange an mit den Beinen zu wippen immer mehr, immer stärker. Meine Sitznachbarin flüstert mir zu dass sie das stört. Ich zwinge mich aufzuhören. Fange stattdessen an an meinem Handrücken zu kratzen. Es fängt an zu brennen. Keine Erleichterung. Verstohlen schaue ich mich im Klassenzimmer um. Ob es jemand merken würde?, frage ich mich stumm. Nehme die Enden meines Schals in die Hände und zieh ihn langsam enger. Mir wird schlecht, das Atmen wird schwerer.

Wieder im Unterricht. In Gedanken versunken ritze ich mit dem Fingernagel meines Daumens über meinen Zeigefinger der rechten Hand. Es brennt diesmal schlimmer. Überrascht, aber nicht abgeschreckt kratze ich weiter. Die Wunde ist mittlerweile rot geschwollen und nässt sogar leicht. Meine beste Freundin sitzt neben mir und reißt meine Hände auseinander. "Hey, du tust dir noch weh!" Verständnislos schau ich sie an. "Ja, na und?" Es ist mir einfach herausgerutscht. Sie sieht merkwürdig aus wie sie einfach nur so da steht und mich anstarrt...



Ich kenne den Abgrund. Ich kenne ihn genau. Warum tanze ich dann immernoch an der Kante, den einen Fuß in der Luft, anstatt so schnell wie nur möglich in die entgegen gesetzte Richtung hinweg zu rennen?

1 Kommentar:

  1. fühl dich mal in den arm genommen,ok?
    gib nicht auf,kämpfe weiter,es lohnt sich doch ein leben ohne so eine art von schmerz und bestrafung zu leben!
    du hast es nicht verdient dich selbst so zu behandeln,glaub mir!

    lg!
    Wolfsauge/farbenleere

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